
Emotionaler Lebenslauf
The boring one
/ 1980
/ 1983
/ 1984
Das Traurige ist, dass ich glaube, bloß Glück gehabt zu haben. Ich fühle keinen Stolz, sondern erlebe mich als schwach und minderwertig, weil ich erst nach sechs Wochen geschafft habe, was für andere ein Kinderspiel gewesen wäre. Mit meinen zwölfeinhalb Jahren verstehe ich noch nicht, dass ich etwas Großes vollbracht habe, etwas persönlich Großes, nämlich dass ich getan habe, wovor ich Angst hatte. Weil ich das noch nicht verstehe, muss ich die Lektion noch einmal lernen:
Mit 16 Jahren habe ich ein schrecklich schmerzhaftes Erlebnis bei einem Pfuscher von Zahnarzt und gehe daraufhin acht Jahre lang nicht mehr zum Zahnarzt. Erst als ich vor lauter Zahnschmerzen nicht mehr studieren kann, mache ich einen Termin. Als ich ins Behandlungszimmer geführt werde, setze ich mich nicht auf den Stuhl, sondern erwarte den Zahnarzt an der Tür. Er fragt freundlich: „Oh, hat man Ihnen keinen Platz angeboten?“ Ich sage: „Doch, doch, aber da kann ich mich heute noch nicht hinsetzen. Wir müssen erst reden!“ „Gut“, sagt der Zahnarzt, „reden wir!“; vermutlich kennt er so Schätzchen wie mich zu Genüge. Ich erzähle ihm von meiner Angst, bin erleichtert und muss irgendwann über die ganze Situation lachen: der angehende Psychotherapeut, der beim Zahnarzt erst mal „nur reden“ will. Nach einer Weile sagt der Zahnarzt: „Wollen wir denn mal einen Blick riskieren? Nur gucken, natürlich!“ Ich lasse es zu und frage am Ende: „Ist es sehr schlimm?“ Er lächelt mich wieder an und sagt: „Nun ja, ‚sehr schlimm’ ist es nicht, jedenfalls nichts, was wir nicht wieder hinkriegten. Aber ein halber Kleinwagen dürfte für mich schon dabei herausspringen!“ Er ist mir bis heute ein Vorbild dafür, Humor und Ernsthaftigkeit zu verbinden.
/ 1985
/ 1986
/ 1991
/ 1993
/ 1998
/ 2002
/ 2007
/ 2008
/ 2009
/ 2011
/ 2013
/ 2014
7 Tage später komme ich nachts nach Hause und am nächsten Morgen kommen alle Kinder zu mir ins Bett gestürmt, reden parallel auf mich ein, raufen mit mir und wollen gefühlte 25 Bilderbücher mit mir angucken. Meine ältere Tochter, die für Süßholzraspelei nicht bekannt ist, umarmt mich und sagt: “Du bist der beste Papa der Welt!” Nach einer knappen Stunde werden wir zum Frühstück gerufen. Anschließend streite ich wie üblich mit allen Dreien wegen des Zähneputzens und des Anziehens, meine Tochter sagt: “Wenn ich jetzt Zähne putzen muss, bist Du nicht mehr mein bester Papa!” Ich beschließe, im kommenden Jahr wieder für mindestens eine Woche wegzufahren.
Es war nur eine Stunde – aber eine Stunde ist eine Stunde!
/ 2014
Im Sommerurlaub klagt mein Sohn plötzlich über extreme Gelenkschmerzen. Ich selber nehme es gar nicht richtig ernst, aber meine Frau fährt sofort mit ihm ins Krankenhaus. Nachdem ich meine Töchter ins Bett gebracht habe, setze ich mich vor den Fernseher – es ist der Tag des Halbfinals gegen Brasilien. Beim Stande von 0:0 kommen meine Frau und mein Sohn zurück. Als er endlich eingeschlafen ist, berichtet meine Frau von der Diagnose: eine sehr seltene und schwer beeinträchtigende Kinderkrankheit unklaren Verlaufs. Wir verbringen den Rest des Abends im Internet – was es natürlich nicht besser macht. Zwischendurch geht meine Frau einmal ins Wohnzimmer und sagt tonlos: “Es steht 7:0 für Deutschland.” Ich sage: “Aha.”
Als ein paar Tage später Mario Götze mich – und ein paar Millionen andere Fußball-Fanatiker – zum Weltmeister macht, denke ich unmittelbar daran, meinem Sohn, der ein großer Mario Götze-Fan ist und sich in dieser Nacht mehrfach wegen Magenkrämpfen übergibt, am nächsten Morgen das Tor im Internet zu zeigen.
Nach weiteren sechs Wochen, die mein Sohn vollständig im Bett verbringt (selbst auf die Toilette muss er getragen werden), geht es ihm ein klein wenig besser, sodass wir uns draußen in die Liegestühle setzen. Als aus dem Radio Andreas Bouranis “Auf uns” erklingt, deutet mein Sohn einen Mario Götze-Jubel an – und grinst. Dieser erste Anflug von Wohlergehen nach knapp zwei Monaten des Leidens beflügelt mich so sehr, dass ich zur Musik von “Auf uns” herumblödele: “Ein Hoch auf den, der neben mir liegt – er hat die Krankheit bald besiegt – ein Hoch auf uns – auf dieses Leben!” Mein Sohn strahlt übers ganze Gesicht und singt diesen Text am selben Tag noch mehrfach – wie auch an jedem der folgenden knapp fünfzig Tage, die er noch in Liege- oder Rollstuhl verbringen muss. Monate später hören wir das Lied zusammen in einer Kinderdisco, tanzen dazu und singen “unseren Text”. Ein paar Minuten später geht mein Sohn zur DJane und bringt es – gegen jede Regel des DJings – fertig, dass “Auf uns” gleich noch einmal gespielt wird. Ich habe das 7:1 gegen Brasilien ja nicht gesehen, aber mehr Gänsehaut kann es kaum gewesen sein.
Die Erkenntnis mag ernüchternd sein oder auch wieder nicht: Das Wichtigste, das ich bisher in meinem Leben vollbracht habe, war ein lustiger Reim im richtigen Augenblick.
/ 2018
Nach etlichen Jahren des Suchens finden wir endlich ein Haus in der Gegend, wo alle Kinder zur Schule gehen, meine Frau arbeitet, eigentlich unser ganzes Leben stattfindet. Tolle Lage, sogar bezahlbar! Es ist allerdings ein älteres Haus. „Älter“ nicht im Sinne von „urig“ oder „wunderschöne Holzbalken“, sondern eher im Sinne von (wie mein 11-jähriger Sohn es ausdrückt): „Mann, ist das schäbig hier!“ Komplett sanierungsbedürftig eben! Ein Haus komplett zu sanieren und umzubauen – vielmehr: umbauen zu lassen –, ist für einen Kontroll-Freak wie mich noch krasser als Vater werden: Meinen Kindern muss ich zwar stündlich 100.000 Ansagen machen – aber am Ende des Tages hören sie dann doch (noch!) auf mich. Einfach, weil ich ihnen mit Süßigkeiten-Entzug drohe. Handwerker, Architekten und Küchenplaner hingegen KÖNNEN gar nicht auf mich hören – weil ich nämlich keinen blassen Schimmer habe, was ich Ihnen für Ansagen machen könnte, sollte oder müsste. Wenn die Handwerker MIR Ansagen machen, nicke ich verständnisvoll (das habe ich als Psychotherapeut ja gelernt …) und warte einen Aspekt ihrer Ausführungen ab, den ich halbwegs verstehe, um eine pointierte Nachfrage zu stellen, damit ich nicht als das entlarvt werde, was ich bin: ein technisch-handwerklicher Vollpfosten. Langer Rede, kurzer Sinn: Es ist grauenvoll! Niemals in meinem Leben habe ich mich so hilflos gefühlt.
Aber gut, es ist Juni, die Sonne scheint und der Architekt klopft mir auf die Schulter und sagt: „Weihnachten werden Sie in Ihrem wunderschönen neuen Haus feiern!“
/ 2019
Wir haben Weihnachten NICHT in unserem neuen Haus gefeiert. Es gab nämlich weder eine Küche noch ein Badezimmer noch eine Heizung. Letztere wäre allerdings eh nutzlos gewesen, da die alten Fenster zwar längst ausgebaut, die neuen aber wegen „Lieferschwierigkeiten“ noch nicht eingesetzt waren. Passenderweise war auch das alte Dach kurz vor Weihnachten schon entfernt worden, von einem neuen Dach aber noch keine Spur. Möglicherweise wollten die Dachdecker einfach Santa Claus den Zugang erleichtern, vielleicht gab es aber auch bloß wieder „Lieferschwierigkeiten“. „Lieferschwierigkeiten“, mein persönliches Unwort des Jahres 2018, ist in der Handwerkersprache der Fachterminus für „Ich komm halt heut‘ nicht …!“ So ähnlich wie wir PsychotherapeutInnen einfach immer von „Depressionen“ sprechen, wenn wir noch keine rechte Ahnung haben, was genau mit jemandem los ist.
A propos „Depressionen“: Die letzten 12 Monate waren noch furchtbarer als es die grandiose Hilflosigkeit der Baubeginn-Phase befürchten ließ. Um es etwas traditionell-männlich-rationalisierend auszudrücken: Ich bin sehr verwundert, dass das Thema „energetische Sanierung eines Altbaus“ mit all seinen existenzialistischen Aspekten weder in der antiken noch in der zeitgenössischen Kunst und Literatur eine herausragende Rolle spielt. Denn zumindest in meinem Leben hat bislang einzig dieser Themenkomplex jenes nihilistische Grauen verkörpert, vor dem ich seit meinem kindlichen Kontakt mit dem „Nichts“ in Michael Endes „Unendlicher Geschichte“ immer Angst hatte. Wie vergleichsweise unbedeutend kommt mir heute all mein Schwelgen in den Hunderten von Romanen und Pop-Songs vor, in denen sich alles um Liebe – bzw. in „meinen“ Songs meist Liebeskummer – drehte, hatte dieser Kummer doch immer auch etwas Poetisch-Lebensbejahendes. Wie relativ albern all die Kunstwerke voller Zorn auf Eltern, Lehrer und Establishment, deren Rebellentum irgendwie auch kraftvoll-schön war (zumindest wenn man skandinavische DeathMetal-Bands „schön“ findet und als „Kunst“ zählt …). Hingegen ist die Frage, wie man eine DIN-genormte Duschkabine in ein Badezimmer mit komplett schrägen Wänden und der irgendwie falschen Fußbodenbeschaffenheit einbaut, einfach nur, Entschuldigung, Scheiße! Und, Entschuldigung, scheißteuer! Null poetisch. Null rebellisch. Und man kann noch nicht einmal irgendjemandem sein Leid klagen, weil man dann ein „Spießer mit Luxus-Problemen“ ist. Wenn man schlaflose Nächte hat, weil einen Liebeskummer oder Weltschmerz nicht ruhen lassen, dann ist das poetisch. Wenn man aber nachts nicht schlafen kann, weil man nicht weiß, welche Baukatastrophen der Maurer morgen wieder im Fundament finden wird oder welche mit dem Stilmittel der Übertreibung reich gesegnete Akonto-Rechnung vom Trockenbauer ins Haus flattern wird, dann ist das, Entschuldigung … naja, nicht poetisch!
/ 2020
Gegen Mittag rückt der Trupp der Garten-Landschaftsbauer ab, die heute fertig geworden sind. Am selben Nachmittag kommt der Teakholztisch für die Terrasse. Wunderschöner Tisch. Ich setze mich auf die Terrasse und beschließe, nein, irgendwie beschließt es in mir, dass jetzt, heute, in diesem Moment, trotz noch fehlender Außensteckdosen und einer nicht rundlaufenden Kondensathebepumpe, das Haus endlich, endlich fertig ist. Und damit die schlimmsten zwei Jahre meines Lebens vorbei. Und dass jetzt die besten Jahre kommen ….
/ 2021
Die Pandemie dauert jetzt 12 Monate an. Davon gefühlte 15 Monate im HomeOffice/HomeSchooling mit drei Kindern … Natürlich könnte jeder von uns Romane über dieses vergangene Jahr schreiben, aber da das hier ja ein emotionaler Lebenslauf ist: Was ist das vorherrschende Gefühl? Nun, ehrlich gesagt: Es ist Scham. Scham darüber, dass ich zwei Jahre lang geklagt habe über Unannehmlichkeiten und ein paar schlaflose Nächte, die ich hatte, um jetzt in einem Haus mit Garten und Super-Internetverbindung sitzen zu können, in dem meine drei Kinder und ich jede*r im eigenen Zimmer mit dem eigenen Laptop parallele Video-Konferenzen abhalten und auch sonst in aller Ruhe unsere Arbeit machen können, während andere … nun ja … Ich komme mir vor wie einer dieser Fußball- oder NBA-Stars, der auf irgendeinem debilen Privatsender eine Rundtour durch seine 2000-Quadratmeter-Villa macht und dann in völlig ernstem Ton zur Interviewerin sagt: “Naja, wissen Sie, manchmal ist es einfach ganz schön, wenn man mal ein bisschen Raum für sich selbst hat …” Das totale Fremdschämen! Nur dieses Mal eben ohne “fremd” …